Zur Ausstellung „Der Glaube an sich …“ von Sabine Wild in der Herz-Marien-Kirche
Einführung und Werkbeschreibung von Günter Fröhlich
Die Ausstellung in der „Taufkapelle“ der Herz-Marien-Kirche in Regensburg zeigt Bilder einer Künstlerin, die sich weigert, solche öffentlichen Präsentationen aus ihrem Fundus zu bestreiten, auch wenn dieser, sofern es passt, zur Ergänzung herangezogen werden darf. In der Vorbereitung einer Ausstellung wird sie zuerst ein neues Thema finden, das der Örtlichkeit und den anderen Rahmenbedingungen einer solchen Präsentation angepasst ist. Die Heranarbeitung an das, was wir inzwischen als Ausstellung sehen, vollzieht Sabine Wild darüber hinaus nicht nur thematisch, sondern in kreativer Weiterentwicklung ihres ganz persönlichen Stils der Gestaltung.
Nachdem die Vernissage zu dieser Präsentation zweimal verschoben wurde und die Planungen dafür inzwischen bereits zwei Jahre zurückreichen, stellt das auch den Laudator, der die wechselnden Ideen über den Zeitraum zu rezipieren hat, vor erhebliche Herausforderungen. Denn freilich überdauert der erste Entwurf für das Bildmaterial keine Ewigkeiten, freilich werden ganze Serien verworfen, freilich steht irgendwann der Titel der Ausstellung, aber mitnichten die wichtigen Fragen fest, und freilich formt sich der Ausdruck erst während des fortlaufenden Schaffensprozesses.
Der Verdacht ist sicher nicht ganz von der Hand zu weisen, dass das, was wir jetzt sehen, genauso gut ganz anders hätte aussehen können, uns damit eine ganz andere Ausstellung und andere Bilder präsentiert worden wären – und bei weiteren Verschiebungen – die realer sind als der Umstand, dass die Bilder nun tatsächlich hängen – auch ganz anders würde ausfallen. Ist die Ausstellung also dem Zufall geschuldet? – Ein solcher Schluss liegt fern!
Dennoch dürfen wir uns berechtigt fühlen, das vorliegende Ergebnis der Ausstellung nicht als Bestand, sondern als Prozess der Rezeption und schrittweisen Annährung in Wilds Bildwelten, als Einladung also, genauer hinzusehen, zu nehmen. Die Blickwinkel dürfen dabei durchaus wechseln, zumal das Augenzwinkern schon im Titel „Der Glaube an sich …“ funkelnd aufblitzt. Was Sabine Wild darstellt, hat ersichtlich etwas Flüchtiges, Vorüberhuschendes, ja vielleicht sogar erkennbar Vergehendes. Was sich in der oberflächlichen Betrachtung oder Anschauung finden und sehen lässt, markiert jeweils nur einen Bruchteil dessen, was tatsächlich dargestellt wird. Wild zeigt tatsächlich keine Situationen, sondern Anregungen zum Sehen und Betrachten, zum Nachdenken und Reflektieren, die sie geschickt unter Alltäglichkeiten wie den Schulbetrieb, das Schlafen, ihre Geburtstagsfeier, das Bilderschaffen oder die Corona-Pandemie versteckt. Jedes Bild und jede Plastik setzen in Bewegung, drücken aus, dass wir uns auch selbst bewegen und verändern, dass dynamische Prozesse wirklicher sind als das Festhalten eines Augenblicks, wie es ja durchaus manche Malwerke oder viele Fotografien zu suggerieren versuchen. Eine solche Fixierung suchen wir bei Wild vergebens.
„Der Glaube an sich …“ thematisiert begrifflich-fokussierend die Ambivalenz des Glaubens: Der religiöse Glaube soll Halt vermitteln in einer unübersichtlichen Welt, dessen Zentrum allerdings gerade in einer Sphäre verortet ist, welche der Welt durch den Glauben gerade entzogen ist. Den Halt aber brauchen wir ebenso in der Welt; hier, im Immanenten. Nur ist dieser nicht vorgegeben, sondern muss erst gesucht und gefunden werden. Ohne einen solchen Halt wüssten wir uns nicht zu orientieren. Wo anders, so fragt Wild mit ihrem Titel, sollen wir diesen finden, wenn nicht in uns selbst?
Wir beginnen unseren Rundgang oben an der Treppe, die zur Taufkapelle hinunterführt:
1. „Gefangen und gehalten“
An der Serie aus drei Bildern („Sabines-“, „Lucies-“ und „Nadines-Pattern“) fällt sofort auf, dass sich die Körperstrukturen der dargestellten Personen – die einmal hoffnungsfroh, einmal fast versunken und einmal nachdenklich dreinblicken – mit ihrem Hintergrund verweben, der dennoch konträr in den Vordergrund drängt. Wir Menschen sind, so scheint es, persönlich und in unserem Verhalten, eingebunden in Verhältnisse, soziale Strukturen, und dem zeitlichen Verlauf. Das Innehalten, das Abstandnehmen von den tätigen Alltäglichkeiten macht uns das Netz bewusst, das uns einerseits einfängt und bindet, uns gleichermaßen aber auch den entscheidenden, innig ersehnten Halt gibt. Es ist bezeichnenderweise nicht der Boden, der uns auffängt und ruhen lässt, sondern das Gefüge der umhüllenden Beziehungen, die Sabine Wild bewusst nicht näher konkretisiert, sondern in der Abstraktion von Mustern belässt. Während die äußeren beiden Werke eher florale Erinnerungen wecken oder ausführen, also das Dynamisch-Organische anzeigen, wirkt das Gerüst im Mittleren mehr wie ein Käfig, dessen Ränder wenigstens hoffnungsfroh offen gehalten worden sind; zudem scheint die Nachdenkliche darin und im Kontrast zu ihrer Versunkenheit umso energischer hervorzutreten. Technisch sind die drei Werke mit Öl-, Acryl- und Aquarell-Farben ausgeführt, was ein speziell präpariertes Papier erfordert, da im Normalfall völlig unterschiedliche Malgründe für die Haftung der Malmittel notwendig sind.
2. Selbstoptimierung
Auch die folgende Serie aus drei Werken stellt jeweils eine Person dar, deren Kontur in Öl ausgeführt ist. Hier sind die Mädchen unmittelbar tätig: Sie malen – und zwar an sich selbst bzw. sich selbst. Der Hintergrund wirkt wiederum unkonkret, diffus, zufällig. Man muss hier wissen, dass es sich beim Malgrund um Abstreifplatten aus dem Malunterricht dreier Schülerinnen („Lilli“; „Jessica“, Leonie“) handelt. Um den Pinsel von dem eben aufgetragenen Farbton zu befreien, wird dieser auf einer Platte „aus“gemalt. Der Farbton jedes Bildes trägt damit die Individualität der Schülerin, die Sabine Wild skizzierte, nachdem die Platten „abgelegt“ wurden. Wie jedes Darstellen ist das Malen hier als Ausdruck eines inneren Geschehens versinnlicht. Die damit einhergehende Selbstfindung und Selbstbestimmung treten in Kontrast zum weitgehend zufälligen Ergebnis durch das Abstreifen des Pinsels; wobei Wild den Prozess des wahrnehmbaren Hervortretens der Farbbeseitigung als Akt des Malens an sich selbst ins Bewusstsein hebt.
3./4. „Dichtung“
Die „Angeloi“ sind Boten. Sie künden uns, was wichtig ist, was wir aber nicht wissen können. Künden sie Frohes oder Bedrohliches? Dürfen wir nachfragen, wenn wir etwas nicht verstanden haben? Gar mit ihnen diskutieren? Wie muss ich das Überlieferte verstehen? Wo ist meine eigene Interpretation gefragt, und wo wird die Auslegungsmächtigkeit begrenzt? Im Rezeptionszyklus links finden wir verschiedene Darstellungen von Engeln („Engels-(Ver)dichtung“) durch die Jahrhunderte der Kunstgeschichte. Die Grundfarben sind tiefes oder leuchtendes Blau und sattes Rot; das Gold der Strahlenkränze beruhigt etwas den starken Farbkontrast: Wir spüren die Aufregung, wenn uns der Engel gegenübertritt. Sein erstes goldenes Wort lautet regelmäßig: Fürchtet euch nicht! Naja, werden wir meinen, es kommt auf die Botschaft an! Das freudige Ereignis, die Ankündigung der Erlösergeburt, wird bei Maria zunächst einmal keine Begeisterungsstürme hervorgerufen haben („Marien-(Ver)dichtung“). Und entsprechend finden wir sie auf den Darstellungen Wilds eher verunsichert. Stimmt das, was der Bote sagt? Warum ich? Was werden die Nachbarn sagen? Da kommt etwas auf mich zu! Das scheinen eher die erwartbaren Reaktionen zu sein, die Wild auf ihrem Bild transportiert. Wahrscheinlich ist es so, dass auch die Gottesmutter erst zu sich selber finden musste, an sich selbst glauben musste, bevor sie ihr Wunder vollbringen konnte bzw. das Wunder an ihr vollzogen wurde, ohne, dass sie dabei die Orientierung in der Welt verlor!
Diese Darstellung gehört ersichtlich zu den vorherigen beiden Bildern: Die Verkündigung zur Orientierung ist weiterhin notwendig, allerdings haben die Medien gewechselt; statt Engel, die zu uns sprechen, und Marien, welche die Botschaft vernehmen, sind normale Schülerinnen geworden. Die „Engel“ und ihre „Botschaften“ erscheinen hier in den Smartphone-Nachrichten und den Social Media. Auch hier dürften wir oftmals nicht beurteilen können, ob die Nachrichten gut oder schlecht sind, und nicht wissen können, welche Zukunft diese noch heraufbeschwören, ob Fluch oder Segen – das gilt freilich in beide Richtungen: eine schrecklich anmutende Botschaft bringt eine Wende zum Besseren hervor, eine scheinbar hoffnungsfrohe Neuigkeit entpuppt sich als verderbenbringendes Unheil. Unsere Missverständnisse über tatsächlich oder vermeintlich höhere Eingebungen waren schon Thema der antiken Orakelauslegung und der Berichte darüber; es mutet sehr sonderbar an, wenn sich heute dem Damals gegenüber wirklich nichts geändert zu haben scheint!
5. „Das Abendmahl am 20.12.2007“
Das Werk über die Geburtstagsfeier stammt aus dem Fundus. Es unterstreicht mehr als alle anderen Werke der Ausstellung das Prozedurale am Schaffen Wilds. Die Malerin skizzierte oder applizierte ihre geladenen Gäste auf ein Tafelbild, und forderte diese am Festabend auf, die Skizzen zu kommentieren. Wir wissen nicht, in welchem Stadium die Feier war, als einzelne Auslegungen zum Geschehen gefertigt wurden. Die Eintragungen haben zum Teil etwas Wildes, etwas Wüstes, ja zum Teil Zerstörerisches beigetragen, welche offenbar den energetischen Zustand des Abends wiederspiegeln. Ein Kunstwerk lädt zur Auseinandersetzung ein, die hier ihre Spuren hinterlassen hat. Die posteffekte Rezeption wird es dabei belassen müssen. Oder will jemand das Fass noch einmal aufmachen, und neue Bemerkungen eintragen? Doch auch die bloß retrospektive, verbal-kommunikative Auseinandersetzung ist wohl versperrt: Psychohygienisch wird es ratsamer sein, einmal ein Bild Sabine Wilds so zu belassen, wie es geworden ist!
6./7./8. „Wer für was?“
Plastische Objekte: Mundschutzhalterungen/Corona-Kerzenständer
Als Kunsterzieherin vermittelt Wild ebenso plastisches Gestalten. Wir finden an der Wand Corona-Masken-Halter, welche die Desinfektion nicht nur dem zeitbedingten Absterben wirksamer Viren überlassen, sondern himmlische Heiler zu Hilfe rufen, Rochus, Corona und Hildegard. Doch auch hier stellen sich Fragen der Handlungsorientierung und des Selbstbezugs: Können die Nothelfer wirklich etwas beitragen? Wem vertrauen wir unter ihnen am meisten, wem am wirksamsten? Es handelt sich um ganz unterschiedliche Persönlichkeiten: Welche überzeugt die Viren am besten, uns mit einer Infektion und Erkrankung zu verschonen? Dem gleichen Zweck dienen die beiden Kerzenhalter, gleich unterhalb und diagonal gegenüber, unterhalb der Treppe: Hildegard von Bingen und Corona sind auf je einem Ständer wiederholt, in der ersten Schale sind die Bluthochdrucksenkerin „Hl. Sabina“ und die „Hl. Katharina von Alexandrien“ ergänzt. Letztere weist uns darauf hin, dass Wissen und Bildung auch in der Pandemie nicht schaden, mit dieser zurechtzukommen. Die zweite Schale vereint zwei weitere Heilgesellen: Kosmas und Damian (in Zügen und Gewandung erkennbar nach der Vorlage im Stundenbuch Anne de Bretagnes aus dem 16 Jhr. ausgeführt). Angesichts der Pandemie ruft Wild somit ganze sieben Heilige an – und nachdem, was wir jetzt schon gesehen haben, wissen wir wieder nicht, an wen wir uns wenden sollen, und ob die Fülle ein Zeichen für Not und Orientierungslosigkeit steht, oder für die vielen Wege, die uns offen stehen.
9. „Bin ich“
Oberhalb des zweiten Kerzenhalters, unterhalb der Treppe hängt eine Tischplatte. Der Tisch stammt aus Bamberg. Dort haben einige Generationen von Schülerinnen und Schülern im Lauf der Zeit ihre Spuren auf diesem hinterlassen. Wild hat den Tisch gerettet und durch einige Übermalungen in Öl ergänzt. Erst dadurch wird uns der Tisch als menschliches Artefakt bewusst, dessen ursprüngliche Funktionalität als Arbeitsmöbel zugunsten einer Art von Erinnerungskultur verschüttet wurde; erst aber die figürlichen Ausschmückungen (denn die Hinterlassenschaften der sich im Unterricht Ablenkenden bestehen überwiegend aus literaten Kritzeleien, Botschaften, Namensnennungen und Grüßen), die Aufnahme in einen Fundus und schließlich die Platzierung in einer Ausstellung transformieren den Prozess der Werkentstehung zu einem Kunstwerk, mit dem sich die Rezipientinnen auseinandersetzen können.
10. „Wer für was?“
„Corona & Co“ („Die ratlose Sabine“)
Mit den vielen Schutzheiligen ist es noch nicht genug! Je mehr, desto besser! Und auch in der fortschreitenden Zeit der Pandemie dürfen wir uns fragen: Wer und was soll jetzt noch helfen? Die Seuche hat viele Folgen, nicht nur Krankheit und Tod. Für jedes Detail unseres Lebens bräuchten wir eine Patronin oder einen Patron! Aber wie können wir dabei den Überblick behalten? Und: „Wer steht für was?“: Nicht, dass wir uns mit unseren Anliegen an die Falschen wenden oder halten! In der Mitte wieder eine Schülerin, die sich in den Medien orientiert, oder sich vielleicht gar nicht für die vielen Schutzangebote interessiert, um sich lieber von der Vielfalt zerstreuen zu lassen. „Die ratlose Sabine“ ist oben links abgebildet. Ihre Fragen sind unsere!
11. Höhere Wege/Sigmar Polke: „höhere Wesen befahlen …“
Rabea Weihser schrieb in der Zeit am 15. April 2014 anlässlich einer großen Retrospektive Sigmar Polkes, von dem der Titel stammt, in der New Yorker MoMa: „Nichts ist, wie es scheint. Niemandes Wahrheit ist wirklich. Und folgen sollte man nur den Fixsternen, die man sich selbst ans Firmament gemalt hat.“
Obwohl sich die Engel zuwenden in diesen drei kleinen, quadratischen Bildern – unbemerkt im Schlaf, um uns im „Durchhalten“ zu bestärken (dargestellt durch einen um etwa 1330 von einem unbekannten Maler dargestellten Engel, der aus der Apokalypse der Abtei Val-Dieu stammt, was wegen der apokalyptischen Untergangsstimmung in deutlichem Kontrast zur Friedlichkeit der Ruhenden steht – aber vielleicht verdeckt auch manche Ruhe den drohenden Abgrund) – aufdringlich mit ihrer Botschaft, die wir nicht verstehen können, aber „Aushalten“ müssen (dargestellt durch den Verkündigungsengel vom Älteren Meister der Aachener Schranktüren; der Engel soll durch das Bild offenbar aufgefordert werden, auch Sabine Wild etwas zu verkünden, wenn er schon zu drei Marien spricht, die er am Grabe empfängt) – oder indem wir uns geschützt und getragen fühlen, also „Einhalten“ können (dargestellt durch einen Giotto-Engel aus der Cappella Scrovegni in Padua (sog. „Arenakapelle“); dieser Engel leitet die flüchtenden Jesuseltern nach Ägypten) –, stellen sich wieder die Fragen, ob wir uns auf die höheren Wesen verlassen können, ob unsere Eingebungen Sinn und Orientierung bereitstellen, oder ob sie uns eher davon abhalten, zu uns selbst zu finden, um aus unserem eigenen Inneren heraus den richtigen Weg einzuschlagen.
Polke freilich hätte alle Fragen verneint! Seine Kritik an der postmodernen Strömung des „Anything goes“, welche die Weltorientierung am Selbstwillen bemisst, wird dabei allerdings leicht übersehen, wenn durch den Aufruf nur die „höheren Wesen“, also unsere Autoritäten, Überlieferungen, allgemeinen Wahrheiten als irrtumsleitend beurteilt werden, nicht aber ebenso das Durcheinander im eigenen Inneren. Gerade der selbst erschaffene Gott ist wie kein anderer austauschbar und fehlbar! Es ist die Verzweiflung darüber, keinen sicheren Halt finden zu können, die einen zur Empfehlung treibt, nur dem eigenen Fixstern zu folgen, und zwar eben im vollen Bewusstsein, dass dieser selber geschaffen ist, und insofern weit mehr Mängel aufweisen wird, als die gesättigte Erfahrung der Tradition, welche die Interpreten zudem gerne mehr zu verdunkeln als zu erhellen pflegen.
Am Ende des Rundgangs sollten wir deswegen noch einmal zurückgehen – wenn das Abstandhalten zu den nachfolgenden Besuchsgästen beachtet wird! – um in Sabine Wilds Ausstellung noch einmal all die höheren Wesen zu suchen und zu entdecken, die sie uns mit ihrer Austellung beschert hat!
12./13. „Schlafende“, „Miniaturschläfchen“
Ist der Mensch ganz bei sich, wenn er schläft? Oder ist er weg von sich, weil ihm alle Eigenschaften fehlen, die ihn zum Menschen machen – in erster Linie die Handlungsfähigkeit im Umgang mit der Welt? Für Aristoteles hing die Notwendigkeit des Schlafs mit der Wahrnehmung zusammen: alle Tiere, die wahrnehmen, müssen auch schlafen. Der Schlaf dient in erster Linie der Verarbeitung dessen, was wir den ganzen Tag über wahrnehmen, und erst zum Zweiten der Erholung.
Wir mögen unser Denken und Handeln auch im Wachzustand nicht immer an der Rationalität bemessen, im Schlaf ist diese dezidiert ausgespart. Die Verarbeitung des tagsüber Wahrgenommenen und Empfundenen erfolgt deswegen im Schlaf assoziativ, in einer manchmal verwirrenden, manchmal auch erschreckenden Neukombination der Bilder, denen sich dann dezidiert auch die Sprache unterordnet. Im Gegensatz zum Wachzustand entledigen wir uns im Schlaf vollständig der sozialen, der rationalen und der natürlichen Ordnung, in welche wir unsere Wahrnehmungen sonst einfügen. Insofern findet nicht nur eine bloße, beliebige Neukombination statt, sondern zwangsläufig auch eine neue, wenn auch ganz eigene Ordnung. In diesem Sinne meint Sabine Wild: „Der Schlaf erlaubt dem Unbewussten, eine neue Ordnung für sich selbst zu finden!“ Da wir keine bewusste Kontrolle über unseren Schlaf haben – ob wir uns an unsere Träume erinnern oder nicht –, wird die Neuordnung uns selbst meist mehr entsprechen, als wenn wir bewusst, und mit all den vorgegebenen Rahmenbedingungen eine Orientierung für unsere Lebensgestaltung suchen.
Wild setzt das Thema wieder in typische Distanz: Der Schlaf selbst lässt sich nicht darstellen, allenfalls als Symbol. Wild malt eine Schlafende („Sandra“), die in unterschiedlicher Haltung und different anmutender „Entspannung“ sich wiederholend über die Leinwand verteilt, bzw. mehr ineinander übergeht, wenn das Kissen der einen Schlafenden gleichzeitig als Zudecke der anderen dient. Die Beobachtung von Schlafenden unterliegt selbst fast einem tabuisierten Respekt, da die Intimität des Ganz-bei-sich-Seins mit der bewussten, äußerlich vorgenommenen „Ausspähung“ heftig kontrastiert. Durch den Blick dringen wir in eine Sphäre ein, die vor Blicken geschützt ist.
Bei den beiden Miniaturkissen ist die Ölfarbe mit dem Haarpinsel aufgetragen. Die Ausführung ist – im vollen Kontrast zu allen anderen Bildern der Ausstellung (ausgenommen die Persondarstellungen auf den Kerzenhaltern) – extrem ziseliert. Die fast exakte Darstellung der Schlafenden („Sanne“; „Sabine“) würde weit tiefer in die umhüllte Sphäre eindringen, wenn die Kissen nicht gar so klein wären, dass sie sich nicht einmal für Neugeborene eigneten.
14. „Der Kreuzweg eines Malers“
Einleuchtenderweise vollzieht sich jede Bilderstellung in einem prozessualen Ablauf. Insofern erscheint „Kreuzweg“ als Beschreibung der Nöte und Schwierigkeiten zum vollendeten Werk, welchen die Künstlerin unterworfen ist, durchaus passend – auch wenn der Laie die künstlerische Tätigkeit als vielleicht kräftezehrend, mehr aber noch als elevatorische Emphase innerer Erfüllung im Ausdruckgeben deutet.
Wild verwendet in diesem Zyklus wohl eher den lateinischen Alternativbegriff von der via dolorosa. Die Schmerzzustände gestalterischen Arbeitens treten nun allerdings nicht in Folgen eines „Weges“, sondern regelmäßig alle auf einmal auf: Die Malerin muss sich angesichts der Bedrängnisse der Werkformung entscheiden für Motiv („Die Suche nach dem Motiv“ – von links nach rechts), formale Anordnung bzw. Komposition („Die Reflexion vor dem Bild“), die Farben („Die Suche nach der Farbe“), den Ausschnitt und das Format („Die Suche nach dem Ausschnitt und Format“) und zuletzt die Eigenrezeption („Das Sichverlieren im Bild“; „Die Anbetung des Bildes“).
Die theologisch-ecclesiastischen Kreuzigungsstationen reichen von der Verurteilung des Erlösers bis zu seiner Auferstehung; waren es anfangs sieben Fußfallgelegenheiten, wurden im Lauf der Jahrhunderte neun, zwölf, vierzehn und fünfzehn daraus. Mit der Sechszahl tritt Wild entweder respektvoll zurück, oder aber der Zyklus ist unvollständig. In jedem Fall erleben wir hier auch wieder die typisch Wildschen ambivalent-spielerischen Umdeutungen sowie die Reflexion über den Gestaltungsprozess bei dieser Bildreihe mit. Das bezieht sich unmittelbar auch auf die Rezeption durch den Betrachter, wenn die Herausforderungen des Malens wie hier nur skizzen-, fast schemenhaft angedeutet werden. Der Betrachter soll mitleiden!
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